1. Leitsymptome
  2. Trauma

Wirbelsäulentrauma inkl. HWS

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Killer

  • Vertebralisdissektion

Red Flags

  • plötzlicher einseitiger Hals-/Nackenschmerz (auch nach Bagatelltrauma z.B. "Einrenken", Massage) + ggf. neurologische Defizite: Vertebralisdissektion? (s. Schlaganfall)

Tipps

  • Wichtig ist, an das HWS Trauma bei entsprechenden Begleitverletzungen zu denken (Hochrasanztrauma, SHT, älterer Mensch mit Bagatelltrauma)
  • Die NEXUS Kriterien (einfacher) bzw. Canadian-C-Spine Rule (CCSR: komplexer, etwas höhere Sensitivität) können bei der Abschätzung weiterer Bildgebung und der Abnahme der HWS-Orthese unterstützen
    • CCSR nur für Patient:innen ≥16 Jahre evaluiert; NEXUS auch für Kinder evaluiert
  • HWS-Distorsion ist klinisch akut kaum relevant, sollte aber wegen häufiger gutachterlicher Folgen adäquat dokumentiert werden
  • Sonderfall: Vertebralisdissektion
    • Teils auch nach Bagatelltrauma (Massage, „Einrenken“) → plötzlicher einseitiger Hals-/Nackenschmerz, ggf. neurologische Defizite: Siehe Schlaganfall.

  • Bei indizierter HWS Immobilisation ist eine isolierte HWS-Orthese nicht ausreichend um die Beweglichkeit der HWS vollständig einzuschränken. In der Praxis wird daher z.B. eine Vakuummatratze oder ein Spineboard mit einer HWS-Orthese kombiniert.
    CAVE: Insbesondere bei schwerem Schädelhirntrauma sollte auf eine HWS-Orthese eher verzichtet werden (Gefahr von Anstieg des intrakraniellen Drucks) und eine indizierte HWS-Immobilisierung z.B. mit Vakuummatratze + zusätzlicher Fixierung des Kopfes und Lagerung mit erhöhtem Oberkörper durchgeführt werden.

Fokus Präklinik

Immobilisierung: “Immo-Ampel”
(alternativ: modifizierte Canadian C-Spine Regel, s. unten)

  • Vollständige Immobilisation bei
    • "offensichtlich schwer verletzt" / Polytrauma
    • SHT mit GCS ≤12
    • peripheres neurologisches Defizit
    • behandlungsbedürftiger WS-Schmerz NRS ≥5
  • Immobilisation / Bewegungseinschränkung erwägen bei ≥1 der "4-S-Regel"
    • Sturz aus > 3m
    • Schwere Rumpfverletzung
    • Supraklavikuläre Verletzung
    • Seniorität (Alter > 65 Jahre)
  • Keine Immobilisierung bei isoliertem penetrierenden Rumpf-Trauma

Einteilung Wirbelsäule

  • HWS (C1-7)
  • BWS (T1-12)
  • LWS (L1-5)
  • Sakrum
  • Steißbein

HWS-Trauma

Klinik

  • Schmerzen/Hartspann über der HWS
  • Schwindel, Übelkeit
  • fokalneurologische Ausfälle (bis hin zu Atemlähmung bei Rückenmarksverletzung oberhalb C4)
  • Spinaler Schock

Diagnostik

  • Beendigung HWS-Immobiliserung vor / ohne Bildgebung:
    • Beurteilung z.B. mit Canadian C-Spine Rule (alternativ NEXUS) - falls keine Auffälligkeiten kann HWS-Orthese abgenommen werden.
  • Indikation zur Bildgebung anhand der Klinik, großzügige Indikation bei Risikofaktoren für Fraktur, z.B.
    • hohes Patientenalter (>65 Jahre)
    • Osteoporose
    • chronische Steroideinnahme
    • mangelhafte klinische Beurteilbarkeit (psychiatrische Erkrankung, Bewusstseinstrübung z.B. nach Alkoholkonsum)
    • Empfehlung: Nutzung eines Algorithmus wie z.B. Canadian C-Spine Rule

Nexus-Regel

Bildgebung der HWS und Belassen der Immobilisierung bis zur Bildgebung bei mind. 1 positivem Kriterium:

Nexus-Kriterien
  • Druckschmerz über der HWS
  • Fokal-neurologisches Defizit
  • Abnormale Vigilanz (GCS <15)
  • Intoxikiert nach Einschätzung Untersucher:in
  • Ablenkende (andere) Verletzung

Canadian C-Spine Regel

Bildgebung der HWS und Belassen der Immobilisierung bis zur Bildgebung bei

  • 1 positivem Kriterium oder
  • keinem Niedrigrisiko-Kriterium oder
  • Bewegungseinschränkung (aktive und passive Rotation HWS 45° nicht möglich)
Canadian C-Spine Kriterien
  • Hochrisiko-Faktoren
    • Alter ≥65 J
    • Parästhesien von Extremitäten
    • gefährlicher Mechanismus z.B.
      • Sturz >1m/5 Treppenstufen
      • Stauchungsverletzung (z.B. Kopfsprung in flaches Wasser)
      • Verkehrsunfall: Hochrasanz (>100km/h), Überschlag, aus Fahrzeug geschleudert, Fahrrad
  • Niedrigrisiko-Faktoren:
    • Einfacher Auffahrunfall (nicht Bus/LKW, Geschwindigkeitsdifferenz <30km/h)
    • Sitzend / gehende Patient:in
    • Verzögerter Beginn (Nacken)Schmerzen
    • Kein Druckschmerz über der HWS

Eine leicht angepasste Version der Canadian C-Spine Regel wurde auch für die Präklinik evaluiert (alternativ wurde in Deutschland die "Immo-Ampel" publiziert, s. "Fokus Präklinik" oben.

Canadian C-Spine (modifiziert - Präklinik)
  • Hochrisiko-Faktoren (wenn ja: Immobilisierung)
    • Alter ≥65 J
    • gefährlicher Mechanismus z.B.
      • Sturz >1m/5 Treppenstufen
      • Stauchungsverletzung (z.B. Kopfsprung in flaches Wasser)
      • Verkehrsunfall: Hochrasanz (>100km/h), Überschlag, aus Fahrzeug geschleudert, Fahrrad gegen Objekt z.B. Auto
    • Taubheit oder Kribbelgefühl in Extremitäten
  • Niedrigrisiko-Faktoren (wenn KEINER vorhanden, dann Immobilisierung)
    • Einfacher Auffahrunfall (nicht bei Kollission mit Bus/LKW, von Fahrzeug mit hoher Geschwindigkeit >100km/h erfasst, in den Gegenverkehr gedrängt, Überschlag)
    • Gehende Patient:in am Einsatzort
    • Keine Nackenschmerzen bei Untersuchung
    • Kein Druckschmerz über der HWS
  • Kopfdrehung: Patient:in kann freiwillig und selbstständig Kopf um 45° nach links und rechts bewegen (auch ggf. trotz Schmerzen)

Wenn kein Hochrisikofaktor, mind. 1 Niedrigrisiko-Faktor und HWS-Bewegung möglich: Verzicht auf HWS-Immobilisierung.

Bildgebung HWS

  • Konventionelles Röntgen (2 Ebenen ggf.+Dens-Zielaufnahme)
    • zur Diagnostik bei niedriger Vortestwahrscheinlichkeit geeignet
    • HWS Beurteilung teilweise wegen mangelnder Mundöffnung (Dens) oder Überdeckung der unteren HWS durch Schultern nicht suffizient möglich
  • HR-CT
    • immer bei klinischem Frakturverdacht
    • insb. bei älteren Patienten / Polytrauma großzügig
    • keine ausreichende Aussage bzgl. ligamentären Strukturen
    • ggf. durch CT-Angiographie zum Ausschluss einer Gefäßdissektion ergänzen
  • MRT
    • akut indiziert bei neurologischem Defizit bei unauffälligem HR-CT
    • Goldstandard zum Nachweis von Weichteil-/Rückenmarksverletzungen

HWS-Distorsion

  • Nach HWS Distorsion sind akute und chronische Beschwerden möglich.
  • Die Akutversorgung besteht vor allem im Ausschluss von knöchernen, diskoligamentären oder Weichteilverletzungen
  • Untersuchung/Diagnostik erfolgt analog zum HWS Trauma

Dokumentation 

  • möglichst relevante Vorbefunde sowie den aktuellen Patient:innenstatus beschreiben
    • hilfreich sind meist standardisierte Dokumentationsbögen
    • Häufig wird die initiale Dokumentation bei Schmerzensgeldansprüchen des/der Patient:in gegen Unfallgegner:innen herangezogen

Therapie/Management:

  • Analgesie mit NSAR, lokale Wärme
  • Aufklärung über Erkrankung (teil länger andauernde Beschwerden, physiotherapeutische Beübung)
  • keine weichen Halskrausen/HWS Orthesen (prolongieren Heilungsverlauf)

Wirbelsäulenfraktur

HWS-Frakturen werden klinisch häufig übersehen und treten häufig in Kombination mit einem SHT oder Thoraxtrauma sowie einer weiteren Wirbelsäulenverletzung einher. 

Ein besonderes Risiko tragen Patient:innen mit ankylosierenden Erkrankungen der Wirbelsäule wie z.B. Morbus Bechterew, aufgrund der Kraftübertragung kann es zu schwersten Verletzungen der Wirbelsäule kommen!


Klinik:

  • lokalisierter Schmerz
  • Achsenfehlstellung/Prellmarke
  • bei Rückenmarksbeteiligung (fokal) neurologische Defizite

Management:

  • Bei Wirbelsäulenfrakturen sollte immer eine unfallchirurgische Vorstellung erfolgen
  • Initial sollte bei Fraktur immer eine Immobilisierung bis zur Festlegung des definitiven Managements erfolgen (strenge Bettruhe, bei HWS Fraktur Zervikalstütze)
    • Anlage der Zervikalstütze nicht mit Gewalt - bei vorbestehenden HWS-Deformationen ggf. alternative Fixierung improvisieren
  • Suffiziente Analgesie
  • eine konservative Therapie ist in der Regel möglich, wenn keine neurologischen Defizite bestehen, die Fraktur unterhalb von C3 ist und nur die vordere Säule (nach Louis und Denis) betroffen ist „Hinterkante steht“
  • stabile (nicht dislozierte) Atlas oder Densfrakturen können meist mit einer Zervikalstütze (Philadelphiakragen) konservativ versorgt werden
  • Wenn nach Rücksprache mit der Unfallchirurgie/Neurochirurgie eine konservative Therapie möglich ist, sollte ein MRT im Verlauf zum Ausschluss ligamentärer Begleitverletzungen zur weiteren Diagnostik empfohlen werden

Rückenmarksverletzung

  • Rückenmarksdurchtrennung oder -Kompression möglich, letztere häufig mit (partieller) Rückbildung der initialen peripheren Defizite
  • häufigste Läsionen betreffen HWS und thorakolumbalen Übergang

Untersuchung:

  • bei Aufnahme (insb. vor Narkose/Intubation) sollte ein kurzer neurologischer Status erhoben werden:
    • Kraftgrade/Sensibilität in allen Extremitäten
    • regelmäßige Beurteilung des Atemmusters (drohende respiratorische Insuffizienz bei hohem Querschnitt)
    • Inkontinenz / Tonus Sphinkter Ani 
    • Untersuchung der relevanten Dermatome/Kennmuskeln und Reflexe

Dermatome / Kennmuskeln

Relevante Dermatome / Kennmuskeln und Reflexe der Rückenmark-Segmente

Segment

Dermatom

Kennmuskeln

Reflex

C4

Schulter

Zwerchfell

C5

Oberarm-Außenseite

Ellbogenflexion

Bizepssehnenreflex

C7

Mittelfinger

Ellbogenextension

Trizepssehnenreflex

T4

Mamillen

T10

Bauchnabel

L2

proximale
Oberschenkel-Innenseite

Hüftflexion

Kremasterreflex

L4

Unterschenkel-Innenseite

Dorsalextension des
Sprunggelenks

Patellarsehnenreflex

S1

lateraler Fußrand

Plantarflexion des
Sprunggelenks

Achillessehnenreflex

Klinische Hinweise auf Rückenmarksverletzung bei Bewusstseinstrübung:

  • schlaffe Parese, Arreflexie
  • fehlender Analsphinktertonus/Stuhlabgang
  • reine Zwerchfellatmung (fehlende Mitarbeit der Interkostal- und Hilfsmuskulatur)
  • Reaktion auf Schmerzreiz kranial der Clavikula bei fehlendem Schmerzreiz kaudal
  • Hypotension bei Bradykardie (spinaler Schock?)
  • Priapismus

Kompletter Querschnitt / spinaler Schock

  • Als Läsionshöhe wird typischerweise mit dem letzten intakten Rückenmarkssegment genannt
  • Rückenmarksdurchtrennungen sind selten, noch seltener sind partielle Durchtrennungen nach penetrierendem Trauma
  • Stumpfe Rückenmarksläsionen durch Kompression oder Kontusion sind häufiger
    • (partiale) Rückbildungen der Läsionen sind abhängig vom Verletzungsgrad nach Kompressionen möglich
  • Kompletter QS: Alle Funktionen kaudal von der Läsionshöhe fallen aus, also alle afferenten und efferenten Bahnen.
  • Häufig Vorliegen eines spinalen Schocks 
    • schwer therapierbar bei typischer peripherer Vasodilatation und Bradykardie
    • Immer andere Ursachen für Schock ausschließen (z.B. Spannungspneumothorax, Volumenmangel)

Inkompletter Querschnitt

  • Klinisch selektiver Funktionsausfall kaudal der Läsionshöhe
  • Aufgrund der somatotopischen Anordnung der langen Bahnen im Rückenmark werden verschiedene Syndrome mit unterschiedlicher Prognose unterschieden
  • Insb. bei Kindern sind Querschnittssyndrome auch ohne bildmorphologische Veränderung möglich (Spinal cord injuries without radiographic abnormalities - SCIWORA)

Syndrome der inkompletten, traumatischen Querschnittssymptomatik

  • Zentrales Querschnittssyndrom: "Tetraparese (sensomotorisch), Arme mehr als Beine betroffen, insb. bei älteren Menschen"
  • Anteriores Querschnittssyndrom: Komplette Lähmung, Verlust von Berührungs-, Schmerz-, und Temperaturempfinden, Lage- und Vibrationsempfinden erhalten
  • Posteriores Querschnittssyndrom: Verlust von Feinmotorik, Lage- und Vibrationsempfinden, Berührungs-, Schmerz- und Temperaturwahrnehmung intakt
  • Brown-Sèquard-Syndrom: ipsilaterale Parese bei kontralateralem Ausfall von Berührungs-, Schmerz- und Temperaturwahrnehmung
  • Cauda equina: asymetrische, radikuläre Ausfälle mit Reinhosenanästhesie, ausgeprägte Parese und Schmerzen

Therapie/Management

  • Operative Therapie
    • Umgehende Rücksprache mit Neurochirugie/Unfallchirurgie (je nach lokaler Zuständigkeit)
    • Übliches operatives Vorgehen:
      • Notfalloperation bei:
        • inkomplette Läsion
        • Einengung des Spinalkanals (z.B. durch Hämatom)
        • offene Wirbeläulenverletzung
      • Verzögerte Operation bei:
        • kompletter Querschnitt bei Rückenmarksdurchtrennung
        • mechanische Wurzelkompression
        • instabile Fraktur
  • Die Gabe von Methylprednisolon (NASCIS-Schema) nach isolierter Rückenmarksverletzung wird nicht mehr empfohlen!
  • Spinaler Schock:
    • allgemeine Schockbehandlung
      • Katecholaminperfusor (z.B. Adrenalin) zum Anheben der Chrono- und Inotropie sowie des peripheren vaskulären Wiederstandes
      • Volumenbolus (initial meist kombiniert vorliegender Volumenmangel)
    • Verlegung: Nach initialer Stabilisierung je nach Infrastruktur des eigenen Krankenhauses umgehende Verlegung in ein Zentrum zur weiteren Versorgung
Interessante Links (frei zugänglich)
Literatur
  • Vaillancourt, C. et al. Implementation of the Modified Canadian C-Spine Rule by Paramedics. Ann. Emerg. Med. 81, 187–196 (2023).
  • Trentzsch, H. Ruhigstellung der Halswirbelsäule in der Präklinik. Notf. Rettungsmedizin 26, 275–281 (2023).
  • Fichtl, M. A., Kanz, K.-G. & Leidel, B. A. Versorgung von Nackenschmerzen. Notf. Rettungsmedizin 26, 139–141 (2023).
  • Häske, D. et al. The Immo traffic light system as a decision-making tool for prehospital spinal immobilization—a systematic review. Dtsch. Ärzteblatt Int. 119, 753–758 (2022).
  • Fichtl, M. A., Beirer, M. & Leidel, B. A. Versorgung von Kreuzschmerzen. Notf. Rettungsmedizin 25, 352–354 (2022).
  • DGN. S1-Leitlinie Beschleunigungstrauma der Halswirbelsäule. AWMF (2020).
  • Fleischmann, T. & Hohenstein, C. Klinische Notfallmedizin Band 1 Wissen: Emergency Medicine nach dem EU-Curriculum. (2020).
  • Wyatt, J. P., Taylor, R. G., Witt, K. de & Hotton, E. J. Oxford Handbook of Emergency Medicine. (2020).
  • Tintinalli, J. E., Ma, J. O. & Donald, Y. M. Tintinalli’s Emergency Medicine. (2019).
  • Maschmann, C., Jeppesen, E., Rubin, M. A. & Barfod, C. New clinical guidelines on the spinal stabilisation of adult trauma patients – consensus and evidence based. Scand. J. Trauma, Resusc. Emerg. Med. 27, 77 (2019).
  • DGOU. S1-Leitlinie Verletzungen der oberen Halswirbelsäule. Unfallchirurg 113, 1023–1041 (2018).
  • Weigel, B. & Nerlich, M. L. Praxisbuch Unfallchirurgie. (2011).

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